Von Marc-André Boisvert | 28. Juni 2013
Dakar/Bissau (IPS/afr). In Dakar ist der Anblick von kleinen Kindern, die zu allen Tages- und Nachtzeiten an den Straßenecken der senegalesischen Hauptstadt betteln, ein gewohnter Anblick. Die manchmal erst fünfjährigen Jungen in schmutziger zerrissener Kleidung, die Geld in Blechbüchsen sammeln, werden „Talibés“ genannt und sind Schüler an islamischen Religionsschulen („Daaras“).
Von jeher wurden solche Kinder von ihren Lehrern zu benachbarten Häusern geschickt, um durch „Betteln Bescheidenheit zu lernen“. Den größten Teil des Tages verbrachten sie aber damit, mit ihren Lehrern, so genannten „Marabouts“, den Koran zu studieren. Inzwischen haben sich die Zeiten geändert. Viele Talibés leiden darunter, dass die Lehrer sie ausbeuten.
Etliche Daaras liegen in Yoff, einem armen Viertel in der Hauptstadt des westafrikanischen Staates. In einer dieser Schulen, die sich in einem unfertigen Gebäude befindet, schlafen etwa 20 Jungen auf dem nackten Betonboden. Um dies beobachten zu können, braucht man den Rohbau gar nicht erst zu betreten.
Ein Talibé auf der Straße berichtet, er sei zwölf Jahre alt. Dabei sieht er erst aus wie sechs. Den ganzen Tag über wiederholt er den Spruch „Gib mir Almosen“. Später erzählt er, dass er umgerechnet einen US-Dollar mitbringen muss, um von seinem Marabout nicht mit einem Elektrokabel geschlagen zu werden. Aus dem Koran kann er nicht einen einzigen Satz aufsagen. In seiner Blechdose liegen Zuckerstücke und ein paar Münzen, die ihm Passanten gegeben haben.
„Die Leute geben diesen Kindern etwas, ohne zu verstehen, was passiert“, erklärt Isabelle de Guillebon, die die Hilfsorganisation „Samusocial Sénégal“ leitet. In ihrem Büro in Ouakam, einem boomenden Viertel der Mittelschicht in Dakar, sammeln sie und ihre Mitarbeiter Horrorgeschichten. Auf ihrem Schreibtisch liegt eine Eisenfessel, mit der Handgelenke von Kindern zusammengehalten wurden. Viele Talibés seien Opfer körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt, berichtet sie.
Neun Kinder bei Brand in Daara umgekommen
Als neun Schüler am 3. März bei einem Brand in einer Daara im Viertel Medina starben, reagierten die Menschen in Senegal mit Empörung. Die Behörden schlossen die Schule und schickten die Kinder zu ihren Familien zurück. Zehn von ihnen stammten aus dem benachbarten Guinea-Bissau.
Es war nicht das erste Mal, dass die Regierung einzugreifen versuchte. Mehrere Nichtregierungsorganisationen, vor allem „Human Rights Watch“, übten Druck auf die Behörden aus und wiesen darauf hin, dass die sich überkreuzenden Interessen von islamischen Institutionen und politischen Kräften zu Untätigkeit führten. 2005 setzte die Regierung strengere Gesetze gegen Betteln in Kraft und verschärfte die Strafen für Kindesmisshandlung.
Doch nach wie vor betteln etwa 8.000 Talibés in den Straßen von Dakar. Drei Monate nach der Tragödie von Medina erscheint eine Lösung des Problems in weiter Ferne. De Guillebon zweifelt daran, dass sich die Lage dieser Kinder bald verbessern wird. „Sie sind keine Talibés, sondern Straßenkinder“, erklärt sie. Ihrer Ansicht nach machen die Koranschüler nur einen Teil der etwa 10.000 bis 12.000 Straßenkinder in Dakar aus.
Seit 2003 ist Samusocial mit zwei mobilen Teams in der Hauptstadt unterwegs, um den Kindern zu helfen. „Sie haben miterlebt, wie ihre Familien zerbrochen sind“, sagt de Guillebon. „Viele kommen aus weit entfernten Regionen, sie stehen unter einem psychischen und sozialen Schock. Vom Mittelalter sind sie geradewegs ins 21. Jahrhundert gekommen.“
Die Direktorin der Hilfsorganisation betont, dass die Kinder psychologische Unterstützung bräuchten, um wieder mit ihren Familien zusammengeführt zu werden. „Wir brauchen Vermittlungshilfe, denn es gibt Gründe, weswegen sie hier sind. Und sie werden zurückkommen, wenn wir uns darum nicht kümmern.“ Für de Guillebon liegt das Problem vor allem darin, dass Eltern ihre Kinder im Stich lassen.
In Bissau, der Hauptstadt des Nachbarlandes Guinea-Bissau, leitet Laudolino Carlos Medina die Vereinigung der Kinderfreunde, die dabei hilft, dass die Jungen aus dem Senegal wieder zu ihren Familien zurückkehren. Die Organisation will sie davor bewahren, von Marabouts zum Betteln gezwungen zu werden. Medina bereitet sich gerade auf die Ankunft von zehn Jungen aus Dakar vor.
Ungebildete Eltern von Koranlehrern getäuscht
„Viele Kinder werden nach Dakar gelockt. Die Marabouts besuchen die Dörfer und nutzen es aus, dass viele Menschen dort ungebildet sind und wenige Chancen im Leben haben.“ Medina kennt inzwischen verschiedene Tricks, mit denen die Islamlehrer die Eltern davon überzeugen, ihnen die Kinder mitzugeben. „Sie bringen zwei oder drei Talibés mit, denen sie eine Koransure beigebracht haben. Die Eltern glauben dann, dass ihre Söhne viel lernen werden.“
In Guinea-Bissau lebt nach Erkenntnissen der Weltbank mehr als die Hälfte der rund 1,4 Millionen Einwohner unterhalb der Armutsgrenze. Etwa 50 Prozent aller Kinder gehen nicht zur Schule.
Ousmane Baldé aus Guinea-Bissau fährt mehrmals im Monat nach Dakar. Die jeweils 17 stündigen Reisen unternimmt er, weil sein Neffe eine Daara in der Stadt besucht. „Bevor meine Schwesterden Jungen dorthin schickte, hatte ich ihr schon geschildert, was ich in Dakar gesehen hatte. Doch sie ist der Meinung, ihr Junge sei in guten Händen, egal was ich sage. Die Familie glaubt, dass er eine bessere Zukunft haben wird und dass sie nicht mehr für ihn verantwortlich sei.“
Auch in Dakar sind viele Menschen von der Qualität der Islamschulen überzeugt. Er lasse zwei Söhne und eine Tochter in Daaras lernen, erzählt der senegalesische Taxifahrer Ousmane Ndiaye. „Sie müssen wie ich den Koran studieren. An Werktagen gehen sie aber auf eine staatliche Schule. Ich denke, dass traditionelle und moderne Schulen miteinander vereinbar sind. In den Daaras lernen die Kinder unsere islamischen Werte kennen.“ (Ende)