Von Karlos Zurutuza | 27. Juni 2012
Bir Lehlu (IPS/afr). Nach dem Grenzübertritt in Tindouf im Westen Algeriens in Richtung Wüste verschwindet die Straße im Sand. 20 Kilometer später zeigt ein Schild das Ende der Reise an: „Willkommen in der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS)“. Ein Soldat im Kampfanzug lässt sich nur noch schnell die Pässe zeigen, dann ist das Ziel erreicht.
82 Staaten haben die DARS als souveränen Staat anerkannt. Doch für die Vereinten Nationen ist sie ein Gebiet, das im Dekolonisierungsprozess steckengeblieben ist – seit dem Abzug der Spanier 1976, um genau zu sein, als die ehemalige Kolonialmacht die Westsahara in den Händen Marokkos und Mauretaniens zurückließ.
Seit dem Waffenstillstandsabkommen von 1991 wird der Großteil des DARS-Territoriums einschließlich des Gebiets an der Atlantikküste von Marokko kontrolliert. Ein kleiner, weitgehend unbewohnter und wirtschaftlich uninteressanter Teil der Wüste, der als die „Befreiten Gebiete“ bekannt ist, verblieb unter der Kontrolle der sahrauischen Befreiungsfront Polisario.
Die in den von Marokko besetzten Gebieten verbotene Widerstandsgruppe wird von Algerien unterstützt und von den UN als legitime Vertretung des sahrauischen Volkes anerkannt. Fast alle rund 250.000 Sahrauis leben jedoch in den algerischen Flüchtlingslagern von Tindouf, etwa 1.465 Kilometer südwestlich von Algier entfernt.
Flüchtlinge seit 37 Jahren
Die Regierungsgebäude sind trotz aller Bescheidenheit leicht zu erkennen, erheben sie sich aus einem Meer von Lehmhütten. Die Sahraui-Flüchtlinge, die alle von ausländischer Hilfe abhängen, hätten nie gedacht, solange in den Lagern bleiben zu müssen. Inzwischen sind es 37 Jahre – Ende offen.
Die Polisario genießt den breiten Rückhalt der Wüstenbewohner, von denen viele nur allzu gern zu den Waffen greifen würden, um für die lang ersehnte Unabhängigkeit zu kämpfen.
Das Leben in den Lagern ist zwar schwierig, aber immer noch besser als in den „Befreiten Gebieten“ – ein geopolitisches Niemandsland, in der ausschließlich die Polisario das Sagen hat. Hier gibt es kaum Wasser, keinen Strom, keine Krankenhäuser. Ein unwirtlicher Ort, der ausschließlich von Nomaden und den Polisario-Soldaten bewohnt wird.
Im Hauptquartier der zweiten Bataillon in Bir Lehlu, der Verwaltungshauptstadt 400 Kilometer westlich von Tindouf, hockt ein Soldat auf einem der wenigen Bäume und sucht mit den Augen den Horizont ab. Auf Anordnung seines Kommandanten springt er auf den Boden und verschwindet in einem Erdloch. Eine Minute später taucht er aus einem anderen, 50 Meter weiter entfernt, wieder auf.
„Im Fall eines Luftangriffs der marokkanischen Streitkräfte können wir uns nur unterirdisch in Sicherheit bringen. So wie das auch die orangenen Eidechsen tun, die Sie hier überall sehen können“, witzelt Sidi Mohamed Baaya, einer der Bataillonsoffiziere. Der Ausbau der unterirdischen Höhlen habe Priorität.
In einer Baracke, die mehr einem Polisario-Geschichtsmuseum gleicht, berichtet Baaya über die „größte“ Infrastruktur, die jemals in der Westsahara gebaut worden ist: die 2.500 Kilometer lange „Mauer“. Der Wall, den die Franzosen in den 1980er Jahren entworfen hatten und der das Gebiet von Nord nach Süd durchschneidet, ist ein komplexes Konstrukt aus Steinwällen, Gräben und Stacheldraht, das die wirtschaftlich produktivsten Teile des Landes absperrt.
„Wir bilden unsere Männer darin aus, die Mauer unbemerkt zu erklettern, damit sie die marokkanischen Truppen gegebenenfalls von hinten angreifen können“, erläutert der Polisario-Vertreter. Bis zum Waffenstillstand 1991 gehörten Vorstöße in die feindlichen Reihen zur Normalität in einem Krieg, der 1975 begann und 16 Jahre andauern sollte.
Der 23-jährige Mohamed Murad wurde in einem der Tindouf-Flüchtlingslager geboren. Er ist Mitglied der motorisierten Militäreinheit, die den Landstreifen längs der Mauer kontrolliert. „Seit der Entführung von drei humanitären Helfern – zwei Spaniern und einem Italiener – vor sieben Monaten, patrouillieren wir jeden Tag rund um die Uhr. Wir wollen Angriffe der Terroristen auf Journalisten und Helfer verhindern“, erläutert Murat.
Hinter der Entführung der drei humanitären Helfer im Oktober in Tindouf werden Mitglieder eines Al-Kaida-Ablegers vermutet. Der Zwischenfall wird von der Polisario sehr ernst genommen. Denn solche Zwischenfälle könnten die internationalen Geber davon abhalten, die dringend benötigten Helfer und Hilfsgüter zu schicken, die für die Sahrauis überlebenswichtig sind.
Japanischer Pickup mit Flugzeugabwehrraketen bestückt
Für die Patrouillen steht der Polisario ein japanischer Pickup zur Verfügung, der mit Fliegerabwehrkanonen bestückt ist. „Wir waren die ersten, die über Leichtfahrzeuge mit schwerem Geschütz verfügten“, berichtet der 60-jährige Salama Abdallahi stolz. Er gehört der Bewegung bereits seit 1974 an und ist einer von vielen Veteranen, die sich zum Bleiben entschlossen haben.
Abdallahi wurde in Bojador geboren, einer Küstenstadt im Süden der von Marokko kontrollierten Sahara. Abgesehen davon, dass die jungen Soldaten von seinen langjährigen Kampferfahrungen profitieren, können sie sich mit Hilfe seiner Erinnerungen ein Bild von dem Land machen, dass ihre Eltern aufgeben mussten.
Etwa 100 Kilometer nordöstlich von Bir Lehlu trifft man auf Zeugnisse des kulturellen sahrauischen Erbes: Die antiken Gesteinsgravuren sind nach Aussagen der wenigen Archäologen in der Region 5.000 Jahre alt.
Ein Nomadenleben
In den kurzen Augenblicken, in denen der Sandsturm nachlässt, sind in der Ferne Nomadenzelte zu sehen. In einem lebt Nuna Bumra Mohamed. Sie erlaubt ihren Gästen einen Blick in den 30 Quadratmeter großen und mit leuchtend roten Teppichen ausgelegten Wohnraum zu werfen. Sie selbst trägt eine grüne Melfa, ein traditionelles Kleidungsstück der sahrauischen Frauen.
Auch über ihrem Zelt weht die obligatorische sahrauische Fahne mit ihrem grünen, weißen und schwarzen Streifen und einem roten Stern in der Mitte. „Wir haben davon gehört, dass Terroristen aus Mali und Mauretanien kommen“, berichtet Bumra, nachdem sie ihren Besuchern einen Becher Ziegenmilch hingestellt hat. „Doch wir fühlen uns unter dem Schutz der Polisario sicher.“
Was den Menschen größere Sorgen bereite, sei der Mangel an Wasser, erläutert Bumra. Trotz der schwierigen Lebensbedingungen hat sie einen Umzug in ein Flüchtlingslager nie in Erwägung gezogen.“ Ich könnte nicht in einem fremden Land leben“, sagt sie. „Außerdem will ich nicht den einzigen Teil des Landes verlassen, der von uns kontrolliert wird.“ (Ende)
Titelbild: Polisario-Patrouille in den „Befreiten Gebieten“ (Bild: Karlos Zurutuza/IPS)