Von Leon Usigbe, Africa Renewal* | 13. Februar 2020
Abuja (AR/afr). Die 20-jährige Phoebe Musa erinnert sich gut an jenen Tag vor fünf Jahren, als Boko-Haram-Milizen ihr Dorf im Bundesstaat Borno im Nordosten Nigerias stürmten. Sie kamen mit Pferden, Motorrädern und Militärfahrzeugen, schossen auf die Menschen und zündeten Dutzende von Gehöften an.
Mitglieder der islamistischen Terrorgruppe entführten Phoebe Musa aus ihrem Haus, verbanden ihre Augen und zogen sie tief in den nahe gelegenen Sambisa-Wald. Dort blieb sie, bis sie Anfang des Jahres von nigerianischen Truppen gerettet wurde.
„Ich wurde mit drei Terroristen gewaltsam verheiratet und brachte drei Kinder zur Welt“, erzählte Musa im Interview mit „Africa Renewal“. Das Gespräch fand in Durumi, einem Lager für Binnenvertriebene in der Hauptstadt Abuja statt. Ihr jüngstes Kind trug Musa beim Interview auf dem Rücken. Ihre beiden älteren Kinder waren im Busch verhungert.
Die Geschichte von Phoebe Musa ist ein Beispiel für die erschütternde humanitäre Lage im Tschadsee-Becken. Nach Angaben des Flüchtlingshochkommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) sind dort fast elf Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Dem UNHCR zufolge fehlt es Tausenden von Binnenvertriebenen am Notwendigsten: Angemessene Unterkünfte, Lebensmittel, Wasser und sanitäre Einrichtungen sind kaum vorhanden.
„Aufgrund der weit verbreiteten Gewalt sind 10,7 Millionen Menschen in der gesamten Region des Tschadsees auf Soforthilfe angewiesen“, sagt die stellvertretende UN-Generalsekretärin Amina Mohammed. „Derzeit gelten 2,3 Millionen Menschen in der Region als Vertriebene. Über fünf Millionen Menschen haben Probleme, Zugang zu Nahrungsmitteln zu bekommen, um zu überleben. Eine halbe Million Kinder leiden unter schwerer akuter Unterernährung.“
Wasserfläche um 90 Prozent geschrumpft
Der Tschadsee war einst das größte Süßwasserreservoir Afrikas und Lebensgrundlage für 30 Millionen Menschen. Seit den 1960er-Jahren ist seine Fläche als Folge von Übernutzung und Klimaerwärmung um 90 Prozent geschrumpft.
Der im Norden Zentralafrikas gelegene Binnensee grenzt an die vier Länder Tschad, Nigeria, Niger und Kamerun. Das Tschadsee-Becken, das fast acht Prozent des Kontinents umfasst, erstreckt sich jedoch über sieben Länder: Algerien, Libyen, Niger, Nigeria, Kamerun, Tschad und die Zentralafrikanische Republik.
Im Kampf ums Überleben verschärften sich Konflikte zwischen Viehzüchtern und Bauern. Familien, die am See vor allem von Landwirtschaft, Fischerei und Viehzucht gelebt hatten, zogen auf der Suche nach Wasser in andere Gebiete.
Tschadsee soll wieder aufgefüllt werden
Die betroffenen Länder führen den Kampf gegen das Elend auf drei Ebenen:
- Eine multinationale Task Force, die sich aus Truppen aus Nigeria, Niger, Kamerun, dem Tschad und Benin zusammensetzt, führt Militärschläge gegen die Terroristen durch.
- Die Regierungen setzen Maßnahmen, um den gewaltsamen Konflikt zwischen Hirten und Bauern um Wasser und Weideland zu beenden.
- Ein ehrgeiziger und milliardenschwerer Plan will den Tschadsee wieder befüllen. Dazu soll Wasser aus dem Ubangi-Fluss, der in einer Entfernung von 2.400 Kilometern in der Demokratischen Republik Kongo fließt, umgeleitet werden. Die Initiative wird vom nigerianischen Präsidenten Muhammadu Buhari angeführt und von den Mitgliedstaaten der Tschadseebecken-Kommission unterstützt.
Milliarden-Hilfe für die Region
Die Vereinten Nationen helfen laut Amina Mohammed in der Region vor allem mit humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit. Außerdem werden Maßnahmen zur Einhaltung der Menschenrechte, zur Stärkung von Justiz und Strafverfolgung sowie zur Prävention und Bekämpfung des Terrorismus gesetzt.
Dazu braucht es viel Geld. In den letzten drei Jahren haben die Vereinten Nationen zwei internationale Geberkonferenzen veranstaltet. Im Februar 2017 wurden in Oslo 672 Millionen US-Dollar an Nothilfe zugesagt. Im September 2018 wurden in Berlin weitere 2,17 Milliarden US-Dollar beschlossen.
Die Nationale Kommission für Flüchtlinge, Migranten und Binnenvertriebene in Nigeria ist der Ansicht, dass Vertriebene nur zwei dauerhafte Optionen haben: Entweder kehren sie nach Hause zurück, oder sie lassen sich woanders nieder.
Im zuletzt genannten Fall müssen die Regierungen dafür Sorge tragen, dass sich die Vertriebenen in der Gesellschaft integrieren können. Daniel Soetan, nationaler Koordinator der „Goodwill Ambassadors of Nigeria“, verteilt mit seiner NGO Hilfsgüter an Binnenvertriebene. Im Gespräch mit “Africa Renewal” fordert er, dass diese Menschen „bei der Gründung eines Geschäfts oder einer Landwirtschaft unterstützt werden, damit sie für ihre Familien sorgen können.“ (Ende)
*Der Autor arbeitet für unser Partnermagazin Africa Renewal der Vereinten Nationen. Der englischsprachige Originalbeitrag ist in der Ausgabe Dezember 2019-März 2020 erschienen.
Titelbild: Am Ufer des Tschadsees im Bundesstaat Borno im Norden von Nigeria (Foto: Sani Ahmad Usman, CC BY-SA 4.0)