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Nigerias „Happy City“ versinkt im Atlantik

Von Promise Eze | 9. Januar 2025

Ayetoro (IPS/afr). Der Ort Ayetoro an der Südwestküste von Nigeria ist durch den Klimawandel praktisch unbewohnbar geworden. Der steigende Meeresspiegel hat bereits 90 Prozent der Fläche überschwemmt. Die Regierung sieht tatenlos zu, wie “The Happy City” zunehmend verschwindet.

Im Jahr 2021 wurde das Zuhause von Ojajuni Olufunsho vom Atlantik fortgespült. Heute lebt die 53-Jährige mit ihren fünf Kindern in einer Notunterkunft aus Holz und Aluminiumblechen. Ihre einst florierende Schneiderei wurde von den Wassermassen komplett zerstört. Olufunsho kämpft um das Überleben ihrer Familie, indem sie alte Kleidungsstücke flickt. „Früher war ich eine bekannte Schneiderin und habe auch Kleidung verkauft, aber das Wasser hat alles vernichtet”, erzählt sie unter Tränen.

Der steigende Meeresspiegel setzt die Einwohner*innen von Ayetoro immer stärker unter Druck: Einheimische bezeugen, dass mittlerweile 90 Prozent des Ortes überschwemmt wurden. Straßen, Häuser, Schulen und sogar Friedhöfe wurden Opfer der Flut, Tausende Bewohner*innen sind obdachlos geworden. „Viele Menschen haben die Stadt verlassen“, sagt Omoyele Thompson, der PR-Beauftragte von Ayetoro. Er verweist auf offizielle Zahlen, wonach die Zahl der Bewohner*innen von rund 30.000 im Jahr 2006 auf mittlerweile 5.000 gesunken sei.

„Eigentum im Wert von mehreren Millionen Dollar wurde zerstört”, erzählt Omoyele Thompson weiter. “Hunderte von Wohnhäusern, darunter ein Entbindungszentrum und Fabriken, wurden weggeschwemmt. Viele Menschen müssen nun in Baracken hausen.”

Blick auf die Baracken von Ayetoro, die in Wasserlachen stehen.
Viele Menschen müssen in Ayetoro in Baracken hausen. (Foto: Promise Eze/IPS)

Lebensraum von 117 Millionen Menschen bedroht

Auf der ganzen Welt stehen Küstenorte vor der Herausforderung, sich gegen die steigenden Meeresspiegel zu schützen. Besonders drastisch ist die Situation allerdings auf Europas südlichem Nachbarkontinent: Das African Centre for Strategic Studies prognostiziert, dass der Meeresspiegel an den Küsten Afrikas im Jahr 2030 um 0,3 Meter höher liegen wird als noch 1990. Damit ist der Lebensraum von 117 Millionen Menschen bedroht.

Nigeria mit seiner ausgedehnten Küste am Golf von Guinea zählt zu jenen Ländern, die am stärksten vom ansteigenden Meeresspiegel betroffen sein könnten. Laut USAID könnte ein Anstieg des Meeresspiegels um 0,5 Meter bis zum Ende des Jahrhunderts die Umsiedelung von bis zu 53 Millionen Nigerianer*innen erforderlich machen. 

Expert*innen sind üerzeugt, dass die Ayetoro ohne schützende Eingriffe bald nur noch auf Fotos und in Geschichtsbüchern existieren wird. Die nigerianische Regierung zeigt aber bislang kaum Ambitionen, den Küstenort bei entsprechenden Vorkehrungen zu unterstützen.

Das verblassende Juwel am Atlantik

Ayetoro wurde 1947 von christlich-apostolischen Missionaren gegründet und galt einst als ein Leuchtturm der Selbstversorgung und des Fortschritts. Der gemeinschaftsorientierte Lebensstil des Ortes, der auf religiösen Werten basierte, Den Beinamen “The Happy City” („Die glückliche Stadt“) erhielt der Ort aufgrund des gemeinschaftsorientieren Lebensstils, der auf religiösen Werten basierte.

Das Ortschild von Ayetoro mit dem Beinamen "The Happy City"
Das Ortschild von Ayetoro mit dem Beinamen „The Happy City“ erinnert an bessere Zeiten. (Foto: Promise Eze/IPS)

In den 1960er und 1970er Jahren wurde Ayetoro für seine beispielhaften Entwicklungen in Sektoren wie Landwirtschaft, Industrie und Bildung bekannt. Hier wurde auch die erste Werft Nigerias errichtet, durch die Branchen wie Bootsbau und Fischerei profitierten.

Die einst schönen Strände und die blühende Infrastruktur sind heute jedoch nur noch eine blasse Erinnerung. Aus dem Juwel am Atlantik ist ein Mahnmal der Zerstörung durch den Klimawandel geworden. 

Wichtige Einrichtungen wie die erste Kirche, der Markt, der Fußballplatz oder die Gemeindebücherei wurden überschwemmt oder zerstört. Sogar der Palast des Monarchen von Ayetoro, der bislang ein Symbol für das reiche kulturelle Erbe des Ortes war, ist von Wasser und Schlamm umgeben. 

Auch das einzige noch existierende Krankenhaus ist in einem nicht mehr tragbaren Zustand. Qualifiziertes Gesundheitspersonal hat Ayetoro in großer Zahl den Rücken zugekehrt. In Notfällen müssen Kranke mit dem Boot in Spitäler benachbarter Gemeinden transportiert werden. Es wird immer wieder von Todesfällen berichtet, die sich während des Krankentransportes ereignen.

Der steigende Meeresspiegel zerstört nicht nur die Anwesen und die Infrastruktur von Ayetoro, sondern entzieht der Bevölkerung auch ihre Lebensgrundlage. Das Ackerland und die Quellen sind durch Salzwasser verunreinigt, Landwirtschaft wird dadurch nahezu unmöglich. Thompson, der für die Rechte der Bevölkerung von Ayetoro kämpft, sagt: „Die Menschen leben in völliger Armut, weil sie ihre Geschäftsgrundlage verloren haben.“

Gebrochene Versprechen

Im Mai 2024 half Omoyele Thompson mit, einen friedlichen Protest zu organisieren. Tausende Einwohner*innen – darunter Kinder und ältere Menschen – forderten die Regierung auf, endlich Maßnahmen zu ergreifen. Doch wie schon in der Vergangenheit passierte nichts.

Die Regierung in Abuja hat in den vergangenen Jahren immer wieder mit leeren Versprechen auf die Hilferufe aus Ayetoro geantwortet. Bereits im Jahr 2000 hatte sich Gemeindebürger*innen in zahlreichen Briefen an die Regierung gewandt und Hilfe gebeten. Vier Jahre später schien Bewegung in die Angelegenheit zu kommen. Die Regierung beauftragte die Niger Delta Development Commisson mit dem Ayetoro Shore Protection Project, das unter anderem den Bau eines Deiches vorsah. Aber Millionen von US-Dollar, die für das Projekt vorgesehen waren, verschwanden in dunklen Kanälen.

Im Jahr 2009 wurde der Auftrag schließlich an ein anderes Unternehmen, Dredging Atlantic, übertragen. Aber auch diese Firma setzte keine der angekündigten Maßnahmen um.

Idowu Oyeneyin, die 38-jährige Mutter dreier Kinder, ist wütend, dass niemand für die gescheiterten Projekte zur Rechenschaft gezogen wurde. Sie sagt, Politiker*innen würden die Gemeinde ohnehin nur zu Wahlzeiten besuchen.

„Der steigende Meeresspiegel an der Küste hat meiner Familie enormes Leid zugefügt”, erzählt Oyeneyin. “Mein Lebensmittelgeschäft wurde durch die Fluten völlig zerstört. Es war nicht nur ein Geschäft – es war unsere Haupteinnahmequelle. Nun kann ich es mir nicht einmal mehr leisten, gut für meine Kinder zu sorgen.”

Oyeneyins Kinder besuchen die einzige verbliebene Schule von Ayetoro. Diese besteht aus einzelnen Holzhütten, die auf Stelzen errichtet wurden und durch instabile Stege miteinander verbunden sind. Aufgrund der wiederkehrenden Fluten musste der Standort der Schule bereits mehrmals verlegt werden.

Blick in die einzig verbliebene Schule von Ayetoro
Blick in die einzig verbliebene Schule von Ayetoro (Foto: Promise Eze/IPS)

Der Fluch der fossilen Brennstoffe

Die Anfälligkeit für den steigenden Meeresspiegel wird durch die Ölförderung in der Region noch verstärkt. Ayetoro liegt in einer erdölreichen Region, die vor 30 Jahren in das Blickfeld großer Ölkonzerne rückte. Die schonungslose Ausbeutung von Öl- und Gasvorkommen hat zu enormen Umweltverschmutzungen geführt.

Akinwuwa Omobolanle, die Gemahlin des ehemaligen Königs von Ayetoro, fordert daher, dass lokale und internationale Ölkonzerne ihre Aktivitäten in der Region völlig einstellen: „Die Erdölbohrungen im Meer und die Ankunft von Ausländern, die in den 1990er Jahren in Ayetoro natürliche Ressourcen entdeckten, sind eine der Hauptursachen für das, was uns jetzt bevorsteht. Seitdem sie mit der Ölförderung begonnen haben, eskalieren die Probleme.”

Für Zikorah Ibeh, Programmmanagerin bei der Menschenrechts- und Umweltorganisation Corporate Accountability and Public Participation Africa (CAPPA), macht deutlich: „Während der Anstieg des Meeresspiegels zweifellos auf die globale Erwärmung zurückzuführen ist, ist die Notlage von Ayetoro – wie die vieler ölreicher Gemeinden im Nigerdelta – auch eine direkte Folge des rücksichtslosen Extraktivismus multinationaler Öl- und Gaskonzerne. Jahrzehntelang haben diese Konzerne nahezu ungestraft agiert und eine Spur der Umweltzerstörung hinterlassen.“

Ibeh kritisiert, dass die nigerianischen Regierungen der letzten Jahrzehnte die Konzerne nicht zur Verantwortung gezogen haben. Stattdessen hätten sie sich für die Komplizenschaft entschieden. “Sie haben Unternehmensinteressen und Einnahmequellen über das Wohlergehen von Gemeinden wie Ayetoro gestellt”, sagt Ibeh. “Diese Nachlässigkeit hat die Stadt doppelt verwundbar gemacht: Erstens gegenüber den globalen Auswirkungen des Klimawandels und zweitens gegenüber der ungezügelten Gier profitorientierter Industrien, die die Umwelt als entbehrlich betrachten.“

Große Skepsis gegenüber Industrienationen

Den in Ayetoro verbliebenen Bewohner*innen läuft die Zeit davon. Sie versuchen auf eigenen Antrieb, sich vor den Wassermassen zu schützen, allerdings ohne großen Erfolg.

„Wir haben versucht, lokale Barrieren zu errichten, um die Flut aufzuhalten“, sagt Ojajuni Oluwale, ein Vater von sieben Kindern, der bereits zwei Häuser verloren hat. „Wir haben versucht, uns mit Sandsäcken zu schützen. Aber wenn das Meer kommt, schwemmt es diese einfach weg.“

Ojajuni Oluwale hat bereits zwei Häuser durch die Wassermassen Häuser verloren.
Ojajuni Oluwale hat bereits zwei Häuser durch die Wassermassen Häuser verloren. (Bild: Promise Eze/IPS)

Viele Menschen in Ayetoro sind wütend, weil sie sich im Stich gelassen fühlen – nicht nur von der eigenen Regierung, sondern auch von den reichen Nationen. Im Jahr 2023 waren die Staaten der G20 für 83 Prozent der globalen fossilen CO2-Emissionen verantwortlich. 

Es besteht weit verbreitete Skepsis, dass die Industrienationen ihre Verpflichtungen zur Bewältigung der Klimafolgen einhalten. Bei der Klimakonferenz COP29 in Baku im November 2024 wurde eine Einigung erzielt, dass Entwicklungsländer bis zum Jahr 2035 jährlich 300 Milliarden US-Dollar zur Bekämpfung des Klimawandels erhalten sollen. Vertreter*innen aus dem Globalen Süden bezeichneten diese Summe als völlig unzureichend. Nigerias Gesandte Nkiruka Maduekwe drückte es sogar noch deutlicher aus: „Das ist ein Witz“.

Die nigerianische Klimaexpertin Tolulope Gbenro ist vor allem besorgt darüber, dass die Gelder auch die betroffenen Menschen erreichen. Sie merkt an, dass die Klimafinanzierung derzeit etwas unorganisiert sei und es an einem klaren und einheitlichen Ansatz fehle. „Es ist eine Sache, über genügend Mittel zu verfügen, um den Bedarf zu decken. Eine ganz andere Sache ist jedoch, die richtigen Rechenschafts-, Überwachungs- und Prüfungsinstrumente zu haben, um sicherzustellen, dass die Mittel ordnungsgemäß ausbezahlt werden und zu den am stärksten gefährdeten Gruppen gelangen.”

Der Friseursalon von Emmanuel Aralu wurde Opfer der Fluten.
Der Friseursalon von Emmanuel Aralu wurde Opfer der Fluten. (Foto: Promise Eze/IPS)

Steigende psychische Belastungen

Währenddessen warten die Menschen in Ayetoro weiterhin auf Hilfe, um die endgültige Zerstörung abzuwenden. Bewohner*innen berichten, dass auch die damit verbundenen psychischen Belastungen kaum noch zu bewältigen sind.

„Das Trauma ist unerträglich“, sagt Emmanuel Aralu, der seinen Friseurladen an das Meer verloren hat. „Der gesamte Laden wurde über Nacht ausgelöscht. Nicht ein einziger Artikel konnte gerettet werden. Jetzt muss ich darum kämpfen, über die Runden zu kommen.“

Aralu fährt fort: „Ich muss für etwas leiden, das ich nicht verursacht habe. Die Ölförderung entzieht unseren Offshore-Gebieten Ressourcen, doch die Gewinne kommen Städten wie Abuja und Lagos zugute. Wir müssen die Hauptlast des Schadens tragen. Das ist emotional erschöpfend.“ (Ende)

Titelbild: Akinwuwa Omobolanle, ein Bewohnerin von Ayetoro, zeigt auf den Sumpf, der durch wiederkehrende Überschwemmungen entstanden ist. (Foto: Promise Eze/IPS)